(Nicht-)Sammeln von Objekten mit NS-Bezug in österreichischen Zeitgeschichte-Sammlungen. Aktuelle Akzessionierungspraktiken und offene Fragen

(Nicht-)Sammeln von Objekten mit NS-Bezug in österreichischen Zeitgeschichte-Sammlungen. Aktuelle Akzessionierungspraktiken und offene Fragen

Organisatoren
Haus der Geschichte Österreich
PLZ
1010
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
09.01.2023 -
Von
Eva Hofmann, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Objekte mit NS-Bezug werden den verschiedenen zeithistorischen Gedächtnisinstitutionen besonders häufig angeboten. Die Ausstellung „Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum“ und das abschließende Symposium thematisierten die damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen und Spannungsfelder anhand praxisorientierter Beispiele aus verschiedenen Sammlungen. MONIKA SOMMER (Wien), Direktorin des Haus der Geschichte Österreich (hdgö), betonte den gesellschaftlichen Bedarf nach Antworten zum Umgang mit NS-Objekten in Privatbesitz. Das hdgö nahm dies als Anlass für die Ausstellung, um das eigene Sammlungskonzept zu überarbeiten und die Rolle des Museums zu hinterfragen. Monika Sommer stellte hier Schlagwörter wie „Kompetenzstelle“, „Entscheidungsträger“, „Dienstleistungseinrichtung“ und „Entsorgungsstelle“ in den Raum, die im Laufe des Tages immer wieder aufgegriffen wurden.

STEFAN BENEDIK, EVA MERAN und LAURA LANGEDER (alle Wien) führten durch die Ausstellung, in deren Konzeption alle Arbeitsbereiche des Museums und vor allem die Kulturvermittlung eingebunden waren. Die Ausstellung ist in zwei Bereiche geteilt: Im ersten Teil entscheiden die Besucher:innen, ob sie ein fiktives NS-Objekt, das auf einem Kärtchen illustriert und beschrieben wird, aufbewahren, verkaufen oder zerstören würden und begründen ihre Entscheidung. Die etwa 20.000 Kärtchen werden in einem nächsten Projekt vom Museum ausgewertet. Außerdem werden juristische Informationen, beispielsweise zu online Angeboten, sowie institutionelle Praktiken vermittelt.

Im zweiten Teil sind Objekte mit NS-Bezug, also auch Reproduktionen, ausgestellt. Neben jedem Objekt steht die Verpackung, in der es ins hdgö kam, was die „sakrale Aura“ der Objekte bricht und die Alltäglichkeit solcher Funde zeigt. Die Überlegungen des hdgö zur Aufnahme des Objekts in die Sammlung werden erläutert: Was ist das? Wer verwendete es wie? Wofür steht es? Welche Geschichte kann damit erzählt werden? Besonders interessant für das hdgö sind vermeintlich „harmlose“ Objekte, die zeigen wie die nationalsozialistische Propaganda im Alltag präsent war oder wie die Objekte nachgenutzt wurden. Häufige Objekte bei Schenkungsangeboten sind Winterhilfswerk-Abzeichen und „Knipseralben“.

Im ersten Panel standen die Überlegungen einer Erbengeneration im Vordergrund. MARKUS WALZ (Leipzig) erklärte Anhand von Objekten aus der Kriegsgefangenschaft seines Vaters während des Zweiten Weltkriegs, wie schwierig es sein kann, persönliche Erinnerungsobjekte auf ihren musealen Wert hin zu prüfen. Dabei stellte er die These auf, dass es im zeitlichen Verlauf immer schwieriger werde den Kontext eines Objekts zu fassen. Zentral sei, ob ein Objekt/ein Kontext vom Kommunikativen Gedächtnis ins Kollektive Gedächtnis übergehe oder vergessen werde. Dabei spielten Gedächtnisinstitutionen eine Rolle, da sie abhängig vom Sammlungskonzept über die Aufbewahrung oder das Vergessen bestimmter Objekte entscheiden können. In welcher Art von Sammlung könnten die persönlichen Erinnerungsobjekte aus der Kriegsgefangenschaft des Vaters Eingang finden? Der Aspekt „Kriegsgefangenschaft“ verschwinde mit der Erlebnisgeneration aus dem Kommunikativen Gedächtnis. Markus Walz geht davon aus, dass diese Erinnerung auch im Kollektiven Speichergedächtnis und im normativ-kanonischen Funktionsgedächtnis kaum aufgenommen wurde und zu diesem Thema deshalb nur begrenzt gesammelt werde.

PETER MELICHAR (Bregenz) reflektierte über den Umgang mit einem multimedialen heterogenen Nachlass, den ihm sein Vater, ein erklärter Nationalsozialist, hinterlassen hat. Peter Melichar kam zu dem Schluss, dass er professionelle Hilfe brauche und sich nicht selbst als Historiker um den Nachlass kümmern könne. Besonders interessant war eine Aufstellung von Geschichten des Vaters und Peter Melichars Erinnerungen an ihn, die mündlich überliefert wurden und den Sohn dadurch zu einem Teil des Nachlasses machen. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass Objekte ohne die dazugehörige Geschichte nicht vollständig seien und die Frage aufgeworfen, wie stark man bei der Aufzeichnung dieser Geschichten die nachfolgende(n) Generation(en) mitaufnehmen sollte. Außerdem wurden Theorien, die davon ausgehen, Objekte und Narrative müssten institutionalisiert sein um erinnert zu werden, als teleologisch kritisiert. Stefan Benedik meinte in diesem Zusammenhang, Objekte könnten auch im privaten Kontext „produktiv“ sein.

NIKOLAUS HAGEN (Dornbirn) stellte das „Büro für schweres Erbe“ am Stadtmuseum Dornbirn vor. Dieses soll in einer Ausstellung im November 2023 resultieren und die Dauerausstellung aus den 1990er-Jahren verändern. Mit dem „Büro für schweres Erbe“ startet ein Sammlungsaufruf, bei dem Objekte und/oder Familiengeschichten mit NS- und Dornbirn-Bezug ins Museum gebracht werden können. Die Objekte werden in einem Raum hinter der Dauerausstellung in semi-transparenten Kisten gelagert, wodurch die Hemmnisse weiterer Besucher:innen, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen, abgebaut werden sollen. Außerdem stehe das „Büro“ den Fragen der Stadtbewohner:innen offen und suche aktiv nach Opferbiographien, um diese erinnerungspolitische Lücke zu schließen.

Mit den „dienstleistenden“ Aspekten eines Museums befassten sich STEFAN BENEDIK und LAURA LANGEDER. Sie legten dar, wie die individuellen Erwartungen der Schenkenden – also etwa die schwierigen Fragen auszulagern, eine praktische Lagermöglichkeit zu finden oder die Objekte unabhängig von der damit verbundenen (persönlichen) Geschichte betrachten zu können – den institutionellen Zugängen widersprechen können. Die Erwartung des Museums, möglichst viel Hintergrundinformationen zu bekommen und mit den Schenkenden kooperieren zu können, sei den Schenkenden mitunter nicht bewusst. Das hdgö werde als Anlaufstelle für „problematisches“ Erbe gesehen, während heroische Nachlässe eher anderen Institutionen angeboten würden. Objekte mit NS-Bezug würden von den Schenkenden oft überbewertet (obwohl es sich vielfach um Massenware handelt), was möglicherweise an einer Tabuisierung des Themas liegen könnte. Im Unterschied zum Stadtmuseum Dornbirn werden vom hdgö keine Objekte mit NS-Bezug angekauft.

Bibliothekarische Standpunkte brachte MARKUS STUMPF (Wien) ein, der von den Praktiken der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien berichtete. Objekte mit NS-Bezug würden nie angekauft, aber immer angenommen und eventuell entsorgt (beispielsweise Dubletten). Auch hier wird die Annahme der Objekte als eine Art Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung betrachtet. Die NS-Bestände werden im Katalog jedoch nicht speziell ausgewiesen (mit Ausnahme jener Werke mit entsprechend übernommener Regensburger Verbundklassifikation, die in Österreich allerdings nicht verpflichtend anzuwenden ist), was insgesamt ein Desiderat in Bibliothekskatalogen darstelle. Aufgrund ihrer Relevanz für das Zeitgeschichte-Studium stehen Teile der nationalsozialistischen Bestände auch im Freihandbereich, wodurch eine Kontextualisierung durch die daneben stehende wissenschaftliche Sekundärliteratur ermöglicht wird. Dies sei bei digitalisierten Beständen durch die Urheberrechtsschranke so nicht möglich, da die wissenschaftliche Begleitliteratur meist noch dem Urheberrecht unterliege. Markus Stumpf sprach hier von einer Datenungleichheit und einem „digital gap“, der europaweit gelöst werden sollte. In diesem Zusammenhang sei es umso wichtiger, urheberrechtsfreie Digitalisate von nationalsozialistischen Werken nicht unkommentiert zur Verfügung zu stellen.

Aus den Landessammlungen Niederösterreich berichtete ABELINA BISCHOF (St. Pölten). Die Landessammlungen hatten 2014 und 2017 Sammlungsaufrufe zum Ersten Weltkrieg und der Ersten Republik gestartet. Da aber ein Großteil der Objekte einen Bezug zum Nationalsozialismus hatte, sahen es die Sammlungen als ihre Aufgabe, der Nachfrage nach Begutachtung und Kontextualisierung dieser Objekte nachzukommen. Ziel des überarbeiteten Sammlungskonzepts sei es, nicht vorrangig die NS-Zeit zu dokumentieren, sondern den zeithistorischen Umgang damit. Auch in den Landessammlungen Niederösterreich gebe es keine Ankäufe von NS-Objekten. Es werden nur Schenkungen angenommen, wie beispielsweise Objekte, welche die Exekutive auf einem Flohmarkt beschlagnahmte.

Die digitale Verfügbarkeit von Katalogeinträgen zu NS-Objekten aus dem Spielzeugmuseums Salzburg beschäftigte KARIN RACHBAUER-LEHENAUER (Salzburg). Im Projekt Museum Online sollten eigentlich alle Objekte der Sammlung digital zur Verfügung gestellt werden. Nun wurden als problematisch eingestufte Objekte wieder offline genommen, mit dem Ziel diese nach eingehender Prüfung mit entsprechender Kontextualisierung wieder hochzuladen. In der Sammlung des Spielzeugmuseums finden sich Brettspiele, Zinnfiguren und Winterhilfswerk-Abzeichen mit NS-Bezug. Karin Rachbauer-Lehenauer stellte zur Debatte, ob diese Objekte – und vor allem deren Abbildungen - online sichtbar sein sollten. In der anschließenden Diskussion bemerkte Markus Walz, dass ein Widerspruch zwischen dem Anspruch von Museen auf vollständige Digitalisierung der Sammlungen und der gleichzeitigen Kritik am Vollständigkeits-Idealismus des 19. Jahrhunderts bestehe. Seiner Meinung nach können Teile einer Sammlung auch nicht online gezeigt werden, solange man diesen Schritt begründet.

Aus dem Jüdischen Museum Wien berichtete SABINE APOSTOLO (Wien), dass dessen Sammlungskonzept keine Nationalsozialistika vorsehe, sich aber trotzdem einige Objekte in der Sammlung befinden. In Nachlässen von Jüd:innen gebe es Spuren des Nationalsozialismus, viele davon – beispielsweise eine bemalte Tora-Rolle – zeigten die Verstrickungen und Uneindeutigkeiten der Geschichte besonders gut auf. Interessant sei auch der Umgang mit der Antisemitica-Sammlung Schlaff, die eigentlich nicht ins Sammlungskonzept passt, aber über Umwege ins Museum kam.

Der Austausch über verschiedene institutionelle Praktiken, Projekte und Problemlagen wurde vom Plenum als dringend nötig und äußerst relevant bewertet. Auch wenn sich die Ausgangslagen der Sammlungen unterscheiden, müssen sich doch alle zeithistorischen Sammlungen früher oder später mit der Frage des Umgangs mit Objekten mit NS-Bezug beschäftigen.

Konferenzübersicht:

Monika Sommer (Wien): Begrüßung

Stefan Benedik / Eva Meran / Laura Langeder (Wien): Führung durch die Ausstellung „Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum“

Panel l: Privates/Öffentliches sammeln?

Markus Walz (Leipzig): Tagebuch, Rosenkranz, Zigarettenetui. Lebensgeschichtliche Fragmente zwischen Sammlungstheorie und Meistererzählung

Peter Melichar (Bregenz): Hinterlassenschaft eines Nationalsozialisten. Ein Denkbild

Panel ll: Sammeln als Dienstleistung?

Nikolaus Hagen (Dornbirn): Büro für schweres Erbe. Ein Sammlungs- und Ausstellungsprojekt des Stadtmuseums Dornbirn

Stefan Benedik / Laura Langeder (Wien): Kompetenzstelle Museum. Individuelle Erwartungen und institutionelle Zugänge bei Akquisitionsprozessen im Haus der Geschichte Österreich

Panel lll: Was und warum sammeln?

Markus Stumpf (Wien): Nationalsozialistisches, revisionistisches und anderes Zeugs. Die Sammel- und Ausscheidungspraxis der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien

Abelina Bischof (St. Pölten): Des Aufhebens wert? Beispiele zum Umgang mit Objekten mit NS-Bezug in den Landessammlungen Niederösterreich

Panel llll: Nicht sammeln, nicht zeigen?

Karin Rachbauer-Lehenauer (Salzburg): Ab in den Giftschrank? Überlegungen zum Umgang mit NS-Spielzeug

Sabine Apostolo (Wien): Von Salzteigen und Tora-Rollen. Sammlungsstrategie des Jüdischen Museum Wiens in Bezug auf NS-Objekte

Abschlussdiskussion
Moderation: Dirk Rupnow (Innsbruck)

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts